Die beste Medizin ist die Gesundheit

Enise Lauterbach gab vor zwei Jahren ihre Position als Chefärztin Kardiologie auf und gründete die Lemoa medical GmbH & Co. KG. Gemeinsam mit ihrem Mann Professor Michael Lauterbach setzt sie digitale Lösungen für Gesundheitsversorgung um. Neben Herz-Held für Menschen mit Herzschwäche entstand Consilium, ein Messenger für Ärzte und Psychotherapeuten. Der außerdem von Lauterbach initiierte Digital Health Hub Trier unterstützt regional die Förderung der Digitalisierung im Gesundheitswesen.


Warum ist Digitalisierung im Gesundheitswesen wichtig?

Weil sie notwendig ist. Die Gesellschaft altert, doch werden immer weniger Menschen in Gesundheitsberufen arbeiten. Klug eingesetzte digitale Technologien können Abläufe effizienter gestalten, Personal entlasten und Versorgung verbessern.


Wie ist es um die Digitalisierung im deutschen Gesundheitswesen bestellt?

Aktuell würde ich eine 5 geben, mit einem Plus davor, weil ich die Bestrebungen, die Versäumnisse aufzuholen, positiv sehe. Aber es gibt viel zu tun, wir müssen das gemeinsam angehen.


Welches Land kann Vorbild sein und warum?

In Estland werden 99,9 Prozent aller Rezepte elektronisch ausgestellt. In Dänemark sind 98 Prozent der Hausärztinnen und Hausärzte von der elektronischen Patientenakte ePA überzeugt, weniger als ein Prozent der Bevölkerung verzichtet auf die Anwendung.


Woran liegt das?

Der Unterschied zu uns ist, dass beide Länder erst ihre Verwaltungsabläufe geändert und digitalisiert haben, was sinnvoll ist. Denn das Gesundheitswesen ist eine sektorenübergreifende Angelegenheit und von der Geburt bis zum Tod haben wir mit Behörden zu tun.


Was sollte bei der Digitalisierung des Gesundheitswesens im Fokus stehen?

Ganz klar die flächendeckende Vernetzung, denn es fehlt an Interoperabilität. Wenn ich an meine Kliniktätigkeit denke: Da gab es im Herzkatheterlabor zig verschiedene Anwendungen, die alle nicht miteinander interagierten. Wir brauchen einheitliche Standards und Systeme für strukturierten Datenaustausch in den Einrichtungen und über Sektorengrenzen hinweg.


Wie lässt sich das erreichen?

Indem wir das angehen. Wir wissen darum, debattieren auch seit Jahren darüber, bekommen es aus mannigfaltigen Gründen jedoch nicht gelöst. Einerseits, weil verschiedene Akteure das nicht wollten, außerdem wurde immer wieder auf die Kosten hingewiesen. Wir gehören jedoch zu den reichsten Ländern der Welt und sollten die Vernetzung pragmatisch umsetzen.


Wen meinen Sie mit Akteure?

Wir waren das auch selbst, die Ärzteschaft. Wer sich auf die ePA freute, dachte, sie würde Entlastung bringen. Aber viele sagten, dass man das so nicht machen könne. Vor allem ging es ums Hüten von Datenschätzen. Unsere Selbstverwaltung war lange eher kontraproduktiv. Nur – eigentlich wollen wir die beste Versorgung der Patienten, ergo müsste es um schnellen Datenaustausch gehen. Wir Ärztinnen und Ärzte wollen die Digitalisierung mit voranbringen, vieles liegt auch in unserer Hand.


Das klingt disruptiv.

Mag sein. Aber was erleben wir denn in Praxen und Kliniken? Patientinnen und Patienten kommen mit Röntgentüten oder zwei, drei Aktenordnern. Diese Ordner müssen wir in fünf Minuten lesen und eine Meinung abgeben, von der ein Menschenleben abhängt. Lasst uns das verändern. Dieser Wagemut fehlt. Klar, Risiken sind da. Aber die kann man einkalkulieren und etwas gegen sie tun.


Woran arbeiten Sie und warum?

Ich arbeite an einer digitalen Gesundheitsanwendung für Patienten mit Herzschwäche, denn das war der Wunsch meiner Herzpatienten. Zwar bin ich keine Softwareentwicklerin. Aber wer sollte so eine App entwickeln? Doch wohl eine Person aus dem Bereich Kardiologie mit Expertise in der Behandlung der Herzschwäche. Die Patientinnen und Patienten leiden, weil ihre Lebensqualität sehr eingeschränkt und die Erkrankung tödlich ist. Aus Erlebnissen und Befragungen wissen wir, dass digital unterstütztes Selbstmanagement den Menschen immens hilft. Dazu kommt die Vernetzung der medizinisch Beteiligten. Unsere App ist eine patientenzentrierte Gesundheitsplattform für Herzpatienten. Ich erfülle eine genuin ärztliche Aufgabe, nur eben digital.


Was sind Ihre Botschaften zu Datenschutz und IT-Sicherheit?

Beides ist die Basis. Nun hatte Datenschutz in der Medizin schon immer einen hohen Stellenwert. Mit der DSGVO kam viel Unsicherheit hinein. Immer wieder höre ich, Datenschutz verhindere irgendetwas. Das ist falsch. Hinderlich sind ängstliches Mystifizieren und mangelnde Implementierung. Vor lauter Datenschutz gerät die Datensicherheit aus dem Blick, außerdem scheute man die Investitionskosten für die erforderliche Infrastruktur. Jetzt gibt es entsprechende Sicherheitsrichtlinien und ich denke, wir sollten uns mehr auf IT-Sicherheit konzentrieren.


Wie ist Ihre Meinung zu ePA und KI?

Die deutsche ePA ist zu kompliziert. Die Versicherten müssen sie persönlich beantragen und bei jedem Leistungserbringer zustimmen, dass diese die Daten einsehen können. Das bringt wenig und ist für Ältere oder für Menschen, die nicht gut Deutsch sprechen, eine echte Hürde. Das mehrfache Opt-in wird zu Verwaltungsgewaltakten führen, auch darum sind Ärztinnen und Ärzte sowie Patientinnen und Patienten zurückhaltend. Zum Thema KI – das erregt immer viele Gemüter, positiv wie negativ. Ich glaube, das liegt daran, weil wir KI nicht so richtig fassen können. Doch KI wird in erster Linie von Menschen gemacht. Das sollten wir bedenken, statt es mit Science-Fiction-Ideen zu vermischen. Die Nutzung von KI im Gesundheitssystem wird zunehmen, im Bereich Bilderkennung ist das sinnhaft. Selbstlernende Systeme werden die Arbeit erleichtern.


Wird das Ihren Berufsstand überflüssig machen?

Ich bin davon überzeugt, dass weiter Menschen hinter der KI stehen und ärztliche Entscheidungen bei uns bleiben. Da geht es um Ethik, aber auch um Haftungsfragen, schließlich kann man Maschinen nicht ins Gefängnis stecken. Wir werden KI zum Beispiel für Zweit- oder Drittmeinungen und den Austausch untereinander einsetzen. Es gilt, den Nutzen im Blick zu haben, KI weder zu überhöhen noch zu unterschätzen und uns als Ärzteschaft sehr ernsthaft damit zu beschäftigen.


Welche Rolle spielen die Krankenkassen beim Thema Digitalisierung?

Die Krankenkassen haben die einmalige Chance, Innovationen zu wagen und mitzugestalten, teilweise tun sie das auch bereits. Ich persönlich sehe die Krankenkassen in der Rolle der Gesundheitsförderer. Denn die beste Medizin ist nach wie vor die Gesundheit und ihre Erhaltung. Wir sollten darum auf Prävention setzen und dafür kann man Digitalisierung hervorragend einsetzen.


Welches Potenzial hat Digitalisierung hinsichtlich mehr Gesundheitskompetenz der Versicherten?

Digitalisierung hat nur dann ein Potenzial, wenn sie komplementär zur analogen Medizin genutzt wird. Menschen möchten wahrgenommen werden. Nehmen wir mal eine funktionierende ePA. Wenn Patientinnen und Patienten einen niederschwelligen, barrierefreien Zugang zu ihren Daten haben, fördert das ihre Selbstwirksamkeit, sie können aktiv etwas für sich tun. Die Stärkung der Rolle der Patientinnen und Patienten kann mithilfe der Digitalisierung also enorm verbessert werden. Unabhängige Plattformen mit objektiven Informationen zu Prävention, Erkrankungen und Behandlungsmöglichkeiten dienen der Aufklärung. Das verschafft Zeit für die eigentliche Kommunikation. Wir Ärztinnen und Ärzte sind eben auch Wegbegleiter und Ratgeber, die auf Augenhöhe mit Patientinnen und Patienten kommunizieren.


Was wünschen Sie sich für die kommenden fünf Jahre?

Ich wünsche mir, dass diese digitale Transformation, die in aller Munde ist, für die Medizin in Deutschland eine Erfolgsgeschichte geschrieben hat und alle Player bei diesem Kraftakt an einem Strang gezogen haben. Darum hoffe ich auf mehr Coopetition statt nur Competition, auf ganz viel Pragmatismus und Wagemut. Für mich als Ärztin, die einfach etwas Bestimmtes besser machen wollte und dafür ihren Kittel an die Wand gehängt hat, ist das wirklich der wichtigste Wunsch.


Autor/in: Daniel Poeschkens