Plädoyer für mehr Daten
Die Babyboomer gehen in Rente. Das Rentensystem steht vor dem Härtetest. Weniger Erwerbstätige zahlen den Unterhalt für mehr Rentnerinnen und Rentner bei gestiegener Lebenserwartung. Diskutiert wird die Rente mit 70. Wirtschaftswissenschaftler Johannes Geyer weiß, wie sich eine Anhebung des Rentenalters auf die Gesundheit auswirkt. Und er ist sich sicher, dass mehr Daten die Forschung und die Sozialpolitik verbessern würden.
In einer 2022 veröffentlichten Studie haben Sie betrachtet, welche Folgen 1999 die Abschaffung der Frührente für Frauen hatte. Was haben Sie genau untersucht?
Die Rente ab 60 war bei vielen Frauen beliebt. Der Jahrgang 1952 musste nun drei Jahre länger arbeiten. Gerade in höherem Alter ist eine verlängerte Lebensarbeitszeit für bestimmte Gruppen schwierig zu realisieren. Frage war, welche Auswirkungen das auf die Gesundheit hat. Wir hatten Zugang zu Abrechnungsdaten der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und haben uns -angesehen, ob sich die Frauen der Jahrgänge 1951 und 1952 hinsichtlich ihrer Diagnosen und Häufigkeit der Arztbesuche unterschieden haben.
Hatte der spätere Renteneintritt Auswirkungen auf die Gesundheit?
Speziell in dem Zeitraum, in dem diese Gruppe weiterarbeiten musste, stiegen die Diagnosen für stressbedingte Krankheiten und Stimmungsstörungen an. Und das bereits im Alter von 59. Die Frauen wussten, dass sie länger arbeiten würden und die Daten zeigten entsprechende Effekte. Auch bei physischen Erkrankungen wie Rückenbeschwerden, Adipositas und Bluthochdruck, aber nicht so eindeutig wie bei psychischen. Allerdings zeigten sich kaum unterschiedliche Auswirkungen auf die Gesundheit, wenn die Frauen das Alter 63 erreicht hatten. Folglich hatte die Reform keine starken Langfristeffekte.
Ihr Fazit?
Die Frauen gehen mehr zum Arzt, bei ihnen wird öfter eine Krankheit diagnostiziert und sie haben Stress. Das ist aber nicht von Dauer und quantitativ in der Größenordnung nicht so besorgniserregend.
Die Einnahmen steigen. Zugleich wird mehr für Gesundheit ausgegeben. Was bedeutet das für den Finanzhaushalt?
Da Frauen drei Jahre länger gearbeitet haben, entstanden vier Milliarden zusätzliche Einnahmen durch Krankenkassen- und Rentenbeiträge sowie als Steuermehraufkommen. Die Mehrkosten beliefen sich nur auf 24 Millionen. Das sind zwei Prozent der Kosten der Reform.
Was bedeutet das für die Rente mit 70?
Gut war bei der Reform, dass sie bereits 1999 mit langem Vorlauf angekündigt worden war. Betroffene Frauen konnten sich darauf einstellen. Das Rentenalter wurde zwar stark angehoben, das niedrige Eintrittsalter war aber nicht mehr zeitgemäß. Bei künftigen Reformen sollte man den Planungszeitraum lang halten und die Anhebung nicht in dieser Größenordnung vornehmen. Die Beschäftigten müssen sich darauf einstellen und die Betriebe Arbeitsplätze für die älteren Mitarbeiter einkalkulieren. Die Schwierigkeit, aus der Studie auf die Rente mit 70 zu schließen, besteht darin: In zunehmendem Alter nehmen die Gesundheitsbeschwerden mit steigendem Maß zu. Es ist ein Unterschied, ob ich mit 60 oder mit 70 ein Jahr mehr arbeite. Es bedarf weiterer Untersuchungen zum Gesundheitszustand dieser Gruppen.
Gibt es weitere Schwierigkeiten?
Die Krankenkassendaten enthalten keine Informationen über den sozialrechtlichen Status. Insofern plädiere ich für bessere Daten für die sozialrechtliche Forschung und für die Sozialpolitik.
Sie sehen eine einfache Anhebung der Altersgrenze ohne flankierende Maßnahmen kritisch. Wie können solche Maßnahmen aussehen?
Präventive Maßnahmen sind notwendig. Investitionen in die Gesundheit, schon in jüngeren Jahren, können die Resilienz am Arbeitsplatz erhöhen. In puncto Prävention am Arbeitsplatz oder im Betrieb findet schon einiges statt, aber da kann man sicher noch viel verbessern. Durch Betriebliche Gesundheitsförderung oder den Check 45 der Rentenversicherung. Sie weiß, wer besonders betroffen ist. Aufgrund von Früherkennung über moderne Verfahren könnte sie Leute ansprechen: „Haben Sie vielleicht ein erhöhtes Risiko, aus gesundheitlichen Gründen Ihre Arbeit einschränken zu müssen?“ Kann man schon jetzt etwas tun, um das zu verhindern? Wenn man gute Daten hat, geht sicher noch mehr.
Welche Stellschrauben gibt es noch?
Teilweise in Rente zu gehen und gleichzeitig seine Arbeitszeit zu reduzieren – das könnte Menschen einen gleitenden Übergang in den Ruhestand ermöglichen. Die Bundesregierung hat eine Rahmenbedingungen gesetzt, indem Rentner hinzuverdienen können, so viel sie wollen. Ihre Rente wird nicht gekürzt und sie können weiter versicherungspflichtig bleiben und ihre Rente weiter erhöhen. Solche Modelle sollten allerdings unter gewissen Rahmenbedingungen etabliert werden.
Welche wären das?
Informations- und Vermittlungstätigkeit, um zu klären: Wie kontaktieren die Betriebe ehemalige Angestellte, um sie zurückzuholen. Dazu gehört auch, dass die Arbeitsbedingungen an das Alter angepasst werden, damit die Arbeitsbelastung, die mit dem Alter zunimmt, aufgefangen werden kann. Bis die Betriebe sich darauf eingestellt haben, Menschen auf diesem Wege länger zu halten, wird es noch dauern. Gleichzeitig sind Investitionen in Bildung und Weiterbildung während des gesamten Erwerbslebens notwendig, um einen Berufswechsel ohne Risiko zum Ende des Erwerbslebens zu erleichtern.
Sie empfehlen auch zusätzliche Reformen bei der Erwerbsminderungsrente.
Leute, die erwerbsgemindert sind, schaffen es in der Regel nicht zurück auf den Arbeitsmarkt. Dabei wird die Erwerbsminderung eigentlich per Gesetz befristet gewährt. Faktisch schließt man bei der einen Hälfte aus, dass sich der Gesundheitszustand bessert. Aber auch von der anderen kommt kaum jemand zurück in richtige Erwerbstätigkeit. Wenn die wieder arbeiten gehen und es klappt nicht, kann das dazu führen, dass sie ihren Anspruch verlieren. Diese Gruppe verdient mehr Aufmerksamkeit und ein Reformbemühen hinsichtlich der Restriktivität des Systems.
Konnten Sie bezüglich der Abschaffung der Frührente auch positive -Effekte ausmachen?
Nein, dafür fehlten uns auch die Daten. Es gab viele Studien, die einen negativen Zusammenhang zwischen Gesundheit und Eintrittsalter gefunden haben. Allerdings ist der schlechte Gesundheitszustand oft der Faktor für den Rentenzugang. Klammern Studien diese Gruppe aus, finden sich auch positive Effekte.
Welche sind das?
Das Gesundheitsverhalten verbessert sich, die Menschen sind etwas aktiver und trinken weniger. Gleichzeitig ist das Arbeitsleben für manche essenziell. Sie wissen nicht, wie sie ihre Zeit füllen sollen. Das kann zu ungesunden Verhaltensweisen führen. Das ist ein lebendiges Feld der Forschung, für das uns noch viele Daten fehlen.
Zur Person
Johannes Geyer ist stellvertretender Leiter der Abteilung Staat am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung in Berlin. Er promovierte 2012 an der Freien Universität Berlin mit einer Arbeit über empirische Studien zu ökonomischen Risiken, demografischem Wandel sowie Themen der Volkswirtschaft und Sozialwissenschaft. Von 2012 bis 2016 übernahm er neben seiner Tätigkeit am DIW eine Gastprofessur an der Humboldt-Universität. In seiner Forschung beschäftigt Geyer sich bis heute vor allem mit Fragen der sozialen Sicherung im demografischen Wandel. Er ist partnerschaftlich verbunden mit der Health Econometrics and Data Group (HEDG) und Netspar Fellow. Zeitweilig engagierte er sich als Vertrauensperson für gute wissenschaftliche Praxis.
Fotokredit: Frank Nürnberger