Die Realität ausweiten
Selbstfahrende Autos oder intelligente Maschinen – viele Dinge, die noch vor einigen Jahren höchstens als Utopie durchgingen, sind inzwischen Realität. Augmented Reality ist die nächste Technologie, die kurz vor dem großen Durchbruch steht. Die Anwendungsgebiete und Möglichkeiten sind riesig.
Wie schnell sich eine Technik und das Bewusstsein dafür verändern kann, zeigt sich gut bei Google Glass. Ursprünglich für 2012 geplant, kam die Brille 2014 auf den Markt – und wurde schon bald wiedereingestellt. Die Technik des quasi ersten Wearable für Augmented Reality (AR) war noch nicht ausgereift und die Nutzer – aber vor allem auch die Mitmenschen, die ins Blickfeld geraten konnten – waren mehr als nur skeptisch. Keine drei Jahre später sieht die Realität anders aus. Die digitale Technik hat sich rasant weiterentwickelt und immer mehr Bereiche unseres Lebens durchdrungen. Die AR geht einen Schritt weiter: Sie erweitert unsere Wirklichkeit. Im Fokus stand in den vergangenen Jahren eher die Virtual Reality (VR) – und auch diese Technik steht in vielen Anwendungsbereichen vor einem Durchbruch. Mithilfe einer Datenbrille taucht der Anwender in eine digitale Realität ein. Inzwischen funktioniert dies auch mit dem Handy. Für wenig Geld sind Brillen erhältlich, in die das Handy eingesteckt wird. Spezielle Programme verwandeln das Display in eine Projektionsfläche für VR-Anwendungen.
Spielerisch zum Durchbruch
AR verbindet reale und digitale Welt. Das funktioniert ganz einfach auf dem Handydisplay, aber auch andere „Schaufenster“ wie ein Spiegel oder Autoscheiben sind denkbar. Zum ersten Mal kam ein Vorläufer der AR-Technik im großen Stil beim Bau des Airbus A 380 zum Einsatz. Die Techniker mussten riesige Kabelstränge verlegen. Damit sie den Überblick behielten und beide Hände frei hatten, trugen sie Brillen mit Displays, in denen die Baupläne eingeblendet waren. Die heutige Technik ist viel weiter und doch erst am Anfang. Wie bei so vielen neuen Techniken braucht es einen Durchbruch im Massenmarkt, um attraktiv für weitere Entwicklungen zu sein. Der kam im vergangenen Jahr ausgerechnet mit einer Spielerei: „Pokémon GO“ versetzte Millionen Menschen weltweit in Bewegung und machte die Displays ihrer Smartphones zu einer Projektionsfläche einer erweiterten Realität. Auf dem Display erscheint ein Abbild der Umwelt, wie sie gerade von der Kamera aufgenommen wird – ergänzt um digitale Informationen. Bei Pokémon GO sind das kleine Monster, die gefangen werden müssen. In einer Stadt könnten es Infos zu Geschäften, in einem Supermarkt Inhaltsstoffe von Produkten, im Wald der Name von Pflanzen sein.
Mehr Informationen im Blickfeld
Google, Microsoft und Apple arbeiten mit Hochdruck an der Anwendung. Facebook-Gründer Mark Zuckerberg verkündete jüngst auf der hausinternen Entwicklerkonferenz: „Wir machen die Kamera zur ersten Augmented-Reality-Plattform.“ Was genau das bedeutet, lässt sich derzeit schwer sagen. Aber es wird sicher unseren Blick auf die Welt maßgeblich verändern. Die AR-App von Snapchat, die Millionen von Kids in niedliche Katzen verwandelt, ist in der Tat wirklich nur eine nette Spielerei. Es gibt aber schon Apps, bei denen man Möbel vor dem Kauf per Handy in der eigenen Wohnung platzieren und rumschieben kann, um zu schauen, ob sie auch wirklich hineinpassen. Und das Handydisplay wird sicherlich nicht die einzige Projektionsfläche bleiben. Bei Mercedes werden längst in der Frontscheibe Geschwindigkeit oder Navigationshinweise eingeblendet. Auch an AR-tauglichen Spiegeln wird gearbeitet. Darin kann man morgens per Handbewegung schnell verschiedene Outfits anprobieren. Oder der Work-out wird davor absolviert. Wird eine Übung falsch ausgeführt oder eine Körperpartie zu sehr belastet, leuchtet die jeweilige Körperstelle im Spiegelbild rot auf. Weitverbreitet ist der Einsatz von AR bereits in der Industrie. Hier kommen meist Brillen zum Einsatz, die wichtige Informationen zum Arbeitsumfeld liefern – im Prinzip wie einst beim A 380, nur viel ausgefeilter und in Echtzeit. thyssenkrupp nutzt die AR-Brille Hololens von Microsoft zum Beispiel zur Reparatur von Aufzügen. Gerade im Bereich Reparatur, Montage oder Entwicklung im Maschinenbau wird der Einsatz dieser Technologie rasant zunehmen.
Die Mensch-Maschine im OP
Auch in der Medizin wird weltweit geforscht, wie AR die Versorgung und Behandlung verbessern kann. „Augmented und Virtual Reality sind die Zukunft der Medizin“, sagt Nassir Navab, Leiter des Lehrstuhls für Informationsanwendungen in der Medizin und Augmented Reality an der TU München. Chirurgen werden mit Brillen operieren: So sehen sie das reale Bild – ergänzt um Röntgenaufnahmen sowie etwa Markierungen, wo und wie sie schneiden müssen. Winzige Krebsgeschwüre können mit Farbe markiert werden. Mithilfe von UV-Licht und speziellen Linsen sieht der Arzt diese und kann sie zielgenau entfernen. Daneben gibt es viele weitere medizinische Anwendungsgebiete: Erfolgreich wurden bereits Phantomschmerzen bei amputierten Menschen behandelt. In der AR hatten sie wieder einen Arm. Durch diesen Trick versucht der Körper den Arm zu bewegen, was die Nervenenden aktiviert und schmerzlindernd wirkt. Arachnophobiker können ohne viel Aufwand mit Spinnen konfrontiert werden, das funktioniert auch bei anderen Angstpatienten. Außerdem sieht die Wissenschaft viel Potenzial bei der Behandlung von Alzheimer oder von Schlaganfallpatienten.
Real und realistisch
Die Technik der erweiterten Realität wird unseren Alltag grundlegend verändern. In Meetings sitzt der Kollege zukünftig mit am Tisch – obwohl er sich eigentlich auf einem anderen Kontinent befindet. Auch in die Aus- und Fortbildung wird AR Einzug halten. Kundenkontakte, ein Loch in den Knochen bohren oder ein defektes Teil in einer Maschine austauschen – all das kann viel realistischer trainiert werden. Wenn also in Zukunft das Spiegelbild spricht, ist man nicht verrückt, sondern einfach Teil der erweiterten Realität.