Das Labor in der Hosentasche
Ich bin auch amerikanischer Bürger und habe in New York eine elektronische Patientenakte, auf die ich über mein Smartphone, das ich immer bei mir trage, Zugriff auf meine Gesundheitsdaten und den Stand meiner Gesundheitsversorgung habe.
Ich bekomme eine Push-Nachricht, wenn Vorsorgeuntersuchungen fällig sind oder Impftermine anstehen. Auch mein Medikationsplan ist verfügbar. Dieser ist mit einem Interaktions-Checker verknüpft. Ich habe mein Genom analysieren lassen und der Checker prüft im Hintergrund, ob ein Medikament bei mir wirksam und sicher sein wird.
Personalisierte Medizin unter Einsatz von Pharmakogenomik. So ist eine sicherere und effizientere Arzneimitteltherapie möglich. Darüber hinaus bietet die Patientenakte einen umfangreichen Kundendienst. Wenn ich Gesundheitsdienstleistungen benötige oder bei einem Notfall, zeigt mein Handy in Echtzeit, wohin ich mich wenden muss, und übernimmt auch gleich die Terminplanung. Alles Leistungen und Services, die ich gern nutze. Ich bin überzeugt, dass dies die Gesundheitsversorgung verbessert.
In Deutschland fragt man sich immer erst: Ist es nützlich? Brauche ich das wirklich? In den USA ist man enthusiastischer. Aber auch hier werden sich digitale Lösungen durchsetzen – nämlich dann, wenn sie einen wahrnehmbaren Nutzen bringen. Es gab in Deutschland vor Jahren eine Diskussion um Google Maps. Heute nutzen wir den Dienst fast alle – etwa als Datenbasis für intelligente Navis im Autos. Wir dürfen uns nicht von den Entwicklungen abkoppeln, sondern müssen daran partizipieren. Das gilt auch für das Gesundheitssystem.
Das Handy wächst über sich hinaus. Es gibt bereits eine große Anzahl von Zusatzgeräten, die mit ihm gekoppelt und diagnostisch genutzt werden können. Das prominenteste Beispiel ist die neue Smartwatch von Apple. Diese kann in Echtzeit den Herzrhythmus anzeigen und überwachen. Im Falle von etwa einer Herzrhythmusstörung, die man nicht immer wahrnimmt, wird man gewarnt.
Viele diagnostische Leistungen, die bisher den Besuch einer Praxis erfordern, wird man bald selbst vornehmen können. Das erspart auch die Unannehmlichkeiten, die immer damit einhergehen: der Arbeitszeitausfall, die Anfahrt und die Wartezeiten in der Praxis. Mögliche Einsatzgebiete sind EKG, EEG oder auch Hautscreening. In Deutschland gibt es eine sehr aktive Start-up-Szene, die sich mit der Miniaturisierung von diagnostischen Verfahren befasst und wie diese dann ins Lebensumfeld der Menschen gebracht werden können.
Es gibt unauffällige pflasterähnliche Patches, die man sich auf die Haut klebt und die im subkutanen Gewebe mit einer kleinen Sonde in Echtzeit den Blutzucker monitoren. Noch sind diese nicht mit dem Smartphone gekoppelt. Aber ich sehe in dem Bereich große Durchbrüche. Mithilfe von Patches, Devices oder Armbändern, die mit dem Handy verbunden sind, können in Echtzeit verschiedene wichtige Gesundheitsparameter wie Blutzucker und -druck oder Herzfrequenz und -rhythmus überwacht werden. Und wenn die Werte sich verschlechtern, schlägt das Handy Alarm. Im Hasso-Plattner-Institut arbeiten wir gerade an einer App, die aufgrund der Tonlage das aktuelle Stresslevel misst. Das große Ziel ist, dass die Nutzer einfach ihre Gesundheitsdaten überwachen und sammeln können, sie in einen größeren Kontext bringen können und dass sich ihr Gesundheitszustand dadurch verbessert.
Der Ansatz ist zeitgemäß und zukunftsfähig. Die rapide steigenden Nutzerzahlen belegen, dass die User auch einen wahrnehmbaren Nutzen davon haben.
Nein, so sehe ich das nicht. Aber man weiß so, ob und wie schnell man zu einem Arzt muss – und ist zudem gut vorbereitet für das Gespräch. Für den Arzt ist dies eine ganz andere Ausgangssituation.
Ich würde behaupten, eine angenehmere, bessere und professionellere, weil die Komplexität des Problems reduziert ist und schon einmal analysiert wurde. Viel Zeit beim Arztgespräch geht doch für die Anamnese drauf. Es spart viel Zeit, künstliche Intelligenz mit einer humanen Leistung durch die Arzt-Patienten-Interaktion zu koppeln.
Die Ärzte sind gefordert. Wer hier defensiv, abweisend und ängstlich agiert, hat in Zukunft schlechte Karten. Digitale Technik wird den Alltag in den Praxen wesentlich verbessern und angenehmer machen.
Immer wenn über eine längere Zeit Organisationen und Personen damit beschäftigt waren, etwas aufzubauen, ist es schwer, einen Schlussstrich zu ziehen. Ich sehe keine Zukunft für die eGK, weil es keine Notwendigkeit mehr für sie gibt. Es ist eine Technologie aus einer anderen Zeit. Man fragt sich schon, warum das Projekt so lange fortgeführt wurde und warum immer noch überlegt wird, es weiter fortzuführen. Die elektronische Gesundheitskarte ist sicherlich kein Technologieträger für die Zukunft.
Aus meiner Erfahrung plädiere ich für eine Architektur und eine Lösung, die dem Versicherten die überwiegende Kontrolle über seine Daten gibt.
Sehr weit. Wir reden über Schritte, die anderswo längst implementiert sind. Wir beschäftigen uns derzeit mit der Digitalisierung der Prozesse in der klinischen Versorgung und wie diese Daten vernetzt werden. Das ist gut, aber das bringt uns nicht in die Zukunft, sondern ist allerbestens ein erster Schritt, um anschlussfähig zu werden.
Ich sehe die Gefahr, dass wir uns durch besondere Lösungen, die auf das deutsche Gesundheitssystem zugeschnitten sind, den Zugang zu den allgemeinen Entwicklungen und Trends verbauen.
Das ist richtig. Und ich glaube, dass sich diese Einschätzung gerade so langsam durchsetzt.
Ich teile diese Annahme. Das wird nicht zur gleichen Zeit flächendeckend in allen Bereichen des Gesundheitssystems passieren. Es wird nicht über Nacht ein Schalter umgelegt und plötzlich ist alles anders. Es ist ein schrittweiser Prozess und der schreitet nicht in allen Bereichen im gleichen Tempo voran.
Erwin Böttinger studierte nach seinem Abitur in Bamberg Medizin an der Uni Erlangen-Nürnberg. Nach Approbation und Promotion absolvierte er von 1987 bis 1990 eine ärztliche Weiterbildung in der Inneren Medizin am Cabrini Medical Center in New York. Anschließend spezialisierte er sich auf Nephrologie am Massachusetts General Hospital und an der Harvard Medical School. Ab 1993 war er am National Cancer Institute, National Institutes of Health, in Bethesda (Maryland). 1997 wechselte er als Assistant Professor ans Albert Einstein College of Medicine in New York. 2001 wurde er zum Associate Professor befördert. 2004 wechselte er als Ordentlicher Professor an die Icahn School of Medicine at Mount Sinai. 2015 folgte er dem Ruf an die Charité in Berlin auf eine Professur für Personalisierte Medizin. 2017 wechselte Böttinger an die Universität Potsdam auf eine Professur für „Digital Health Personalized Medicine“, außerdem leitet der 58-Jährige das Digital Health Center am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam.