Das Labor in der Hosentasche

Erwin Böttinger, Professor für Digital Health Personalized Medicine und Leiter Digital Health Center am Hasso-Plattner-Institut
Das Gesundheitswesen verändert sich grundlegend. Die zentrale Rolle kommt dabei dem Smartphone zu. Künftig können wir damit selbst EKG's schreiben, Hautscreenings vornehmen oder unseren aktuellen Stresslevel messen. Außerdem wird auch hierzulande die elektronische Patientenakte als App verfügbar sein – auf dem privaten Handy von Professor Erwin Böttinger ist dies längst Realität. Im Interview erläutert er auch, warum er für die eGK keine Zukunft sieht.
 
Herr Professor Böttinger, es gibt hierzulande erstaunlich viele Handyverweigerer. Die meisten davon halten Handys sogar für die Ursache vieler Übel. Sie sagen, das Smartphone macht uns gesünder.
Ich bin auch amerikanischer Bürger und habe in New York eine elektronische Patientenakte, auf die ich über mein Smartphone, das ich immer bei mir trage, Zugriff auf meine Gesundheitsdaten und den Stand meiner Gesundheitsversorgung habe.
 
Welche Services können Sie nutzen?
Ich bekomme eine Push-Nachricht, wenn Vorsorgeuntersuchungen fällig sind oder Impftermine anstehen. Auch mein Medikationsplan ist verfügbar. Dieser ist mit einem Interaktions-Checker verknüpft. Ich habe mein Genom analysieren lassen und der Checker prüft im Hintergrund, ob ein Medikament bei mir wirksam und sicher sein wird.
 
Also personalisierte Medizin.
Personalisierte Medizin unter Einsatz von Pharmakogenomik. So ist eine sicherere und effizientere Arzneimitteltherapie möglich. Darüber hinaus bietet die Patientenakte einen umfangreichen Kundendienst. Wenn ich Gesundheitsdienstleistungen benötige oder bei einem Notfall, zeigt mein Handy in Echtzeit, wohin ich mich wenden muss, und übernimmt auch gleich die Terminplanung. Alles Leistungen und Services, die ich gern nutze. Ich bin überzeugt, dass dies die Gesundheitsversorgung verbessert.
 
Sie haben lange in den USA gelebt, leben jetzt in Deutschland. Unterscheidet sich die Bereitschaft, neue Technologien zu nutzen?
In Deutschland fragt man sich immer erst: Ist es nützlich? Brauche ich das wirklich? In den USA ist man enthusiastischer. Aber auch hier werden sich digitale Lösungen durchsetzen – nämlich dann, wenn sie einen wahrnehmbaren Nutzen bringen. Es gab in Deutschland vor Jahren eine Diskussion um Google Maps. Heute nutzen wir den Dienst fast alle – etwa als Datenbasis für intelligente Navis im Autos. Wir dürfen uns nicht von den Entwicklungen abkoppeln, sondern müssen daran partizipieren. Das gilt auch für das Gesundheitssystem.
 
Und das Handy kann in der Gesundheitsvorsorge noch viel mehr leisten.
Das Handy wächst über sich hinaus. Es gibt bereits eine große Anzahl von Zusatzgeräten, die mit ihm gekoppelt und diagnostisch genutzt werden können. Das prominenteste Beispiel ist die neue Smartwatch von Apple. Diese kann in Echtzeit den Herzrhythmus anzeigen und überwachen. Im Falle von etwa einer Herzrhythmusstörung, die man nicht immer wahrnimmt, wird man gewarnt.
 
Die Digitalisierung muss einen klaren Nutzen bringen, das gilt auch für Handys
Was ist noch möglich?
Viele diagnostische Leistungen, die bisher den Besuch einer Praxis erfordern, wird man bald selbst vornehmen können. Das erspart auch die Unannehmlichkeiten, die immer damit einhergehen: der Arbeitszeitausfall, die Anfahrt und die Wartezeiten in der Praxis. Mögliche Einsatzgebiete sind EKG, EEG oder auch Hautscreening. In Deutschland gibt es eine sehr aktive Start-up-Szene, die sich mit der Miniaturisierung von diagnostischen Verfahren befasst und wie diese dann ins Lebensumfeld der Menschen gebracht werden können.
 
Das ist ein unglaublicher Fortschritt. Aber es geht noch weiter.
Es gibt unauffällige pflasterähnliche Patches, die man sich auf die Haut klebt und die im subkutanen Gewebe mit einer kleinen Sonde in Echtzeit den Blutzucker monitoren. Noch sind diese nicht mit dem Smartphone gekoppelt. Aber ich sehe in dem Bereich große Durchbrüche. Mithilfe von Patches, Devices oder Armbändern, die mit dem Handy verbunden sind, können in Echtzeit verschiedene wichtige Gesundheitsparameter wie Blutzucker und -druck oder Herzfrequenz und -rhythmus überwacht werden. Und wenn die Werte sich verschlechtern, schlägt das Handy Alarm. Im Hasso-Plattner-Institut arbeiten wir gerade an einer App, die aufgrund der Tonlage das aktuelle Stresslevel misst. Das große Ziel ist, dass die Nutzer einfach ihre Gesundheitsdaten überwachen und sammeln können, sie in einen größeren Kontext bringen können und dass sich ihr Gesundheitszustand dadurch verbessert.
 
Derzeit spricht jeder über die App Ada. Die Anwendung eines Berliners Start-ups ermöglicht mithilfe künstlicher Intelligenz schnell und einfach die Bestimmung der Ursache von Krankheitssymptomen.
Der Ansatz ist zeitgemäß und zukunftsfähig. Die rapide steigenden Nutzerzahlen belegen, dass die User auch einen wahrnehmbaren Nutzen davon haben.
 
Wenn man Ada jetzt noch mit den oben erwähnten persönlichen Vitaldaten koppeln wurde, bräuchte man keinen Arzt mehr?
Nein, so sehe ich das nicht. Aber man weiß so, ob und wie schnell man zu einem Arzt muss – und ist zudem gut vorbereitet für das Gespräch. Für den Arzt ist dies eine ganz andere Ausgangssituation.
 
Besser oder schlechter?
Ich würde behaupten, eine angenehmere, bessere und professionellere, weil die Komplexität des Problems reduziert ist und schon einmal analysiert wurde. Viel Zeit beim Arztgespräch geht doch für die Anamnese drauf. Es spart viel Zeit, künstliche Intelligenz mit einer humanen Leistung durch die Arzt-Patienten-Interaktion zu koppeln.
 
Die Angst der Ärzte, dass ihr Berufsstand verloren geht, ist nicht gerechtfertigt?
Die Ärzte sind gefordert. Wer hier defensiv, abweisend und ängstlich agiert, hat in Zukunft schlechte Karten. Digitale Technik wird den Alltag in den Praxen wesentlich verbessern und angenehmer machen.
 
Bald Zukunft, die digitale Praxis?
Betrachten wir mal einen anderen Bereich des Gesundheitswesens: Hat die eGK eine Zukunft?
Immer wenn über eine längere Zeit Organisationen und Personen damit beschäftigt waren, etwas aufzubauen, ist es schwer, einen Schlussstrich zu ziehen. Ich sehe keine Zukunft für die eGK, weil es keine Notwendigkeit mehr für sie gibt. Es ist eine Technologie aus einer anderen Zeit. Man fragt sich schon, warum das Projekt so lange fortgeführt wurde und warum immer noch überlegt wird, es weiter fortzuführen. Die elektronische Gesundheitskarte ist sicherlich kein Technologieträger für die Zukunft.
 
Wie könnte dieser aussehen?
Aus meiner Erfahrung plädiere ich für eine Architektur und eine Lösung, die dem Versicherten die überwiegende Kontrolle über seine Daten gibt.
 
Wie weit hängt Deutschland hier hinterher?
Sehr weit. Wir reden über Schritte, die anderswo längst implementiert sind. Wir beschäftigen uns derzeit mit der Digitalisierung der Prozesse in der klinischen Versorgung und wie diese Daten vernetzt werden. Das ist gut, aber das bringt uns nicht in die Zukunft, sondern ist allerbestens ein erster Schritt, um anschlussfähig zu werden.
 
Könnte dies scheitern?
Ich sehe die Gefahr, dass wir uns durch besondere Lösungen, die auf das deutsche Gesundheitssystem zugeschnitten sind, den Zugang zu den allgemeinen Entwicklungen und Trends verbauen.
 
Christian Klose, stellvertretender Abteilungsleiter im Bundesgesundheitsministerium, hat auf dem Informationstag der AOK Systems im Oktober auch über die E-Patientenakte gesprochen. Tenor: Die einzige sinnvolle und realistische Lösung in der heutigen Zeit muss eine mobile Anwendung sein
Das ist richtig. Und ich glaube, dass sich diese Einschätzung gerade so langsam durchsetzt.
 
Zum Schluss noch ein Blick in die Glaskugel. Christian Klose hat auf dem Informationstag auch gesagt, dass es im Gesundheitswesen genau wie in anderen Bereichen zu einer grundlegenden Veränderung durch die Digitalisierung kommen wird. Sehen Sie das auch so und wann wird es so weit sein?
Ich teile diese Annahme. Das wird nicht zur gleichen Zeit flächendeckend in allen Bereichen des Gesundheitssystems passieren. Es wird nicht über Nacht ein Schalter umgelegt und plötzlich ist alles anders. Es ist ein schrittweiser Prozess und der schreitet nicht in allen Bereichen im gleichen Tempo voran.
 
Zur Person:

Erwin Böttinger studierte nach seinem Abitur in Bamberg Medizin an der Uni Erlangen-Nürnberg. Nach Approbation und Promotion absolvierte er von 1987 bis 1990 eine ärztliche Weiterbildung in der Inneren Medizin am Cabrini Medical Center in New York. Anschließend spezialisierte er sich auf Nephrologie am Massachusetts General Hospital und an der Harvard Medical School. Ab 1993 war er am National Cancer Institute, National Institutes of Health, in Bethesda (Maryland). 1997 wechselte er als Assistant Professor ans Albert Einstein College of Medicine in New York. 2001 wurde er zum Associate Professor befördert. 2004 wechselte er als Ordentlicher Professor an die Icahn School of Medicine at Mount Sinai. 2015 folgte er dem Ruf an die Charité in Berlin auf eine Professur für Personalisierte Medizin. 2017 wechselte Böttinger an die Universität Potsdam auf eine Professur für „Digital Health Personalized Medicine“, außerdem leitet der 58-Jährige das Digital Health Center am Hasso-Plattner-Institut in Potsdam.