Grosser Fortschritt in der Königsdisziplin
Die elektronische Patientenakte ePA kommt. Wann genau ist nicht klar. Diese Unsicherheit liegt aber nicht an den Krankenkassen oder der gematik, denn diese haben laut Rainer Höfer ihre Aufgaben gut gemacht. Der IT-Experte des GKV-Spitzenverbands spricht über die Rolle des BMGs, der Industrie und der Ärzteschaft und erklärt, warum die Spezifikation zur ePA eine solide Basis ist.
Gesundheitsminister Jens Spahn hat sich in vergangener Zeit kritisch zur Arbeit der gematik geäußert und bemängelt, dass sie zu langsam arbeitet. Wie gut hat sie in Ihren Augen bei den Spezifikationen zur ePA gearbeitet?
Die gematik hat sehr gut gearbeitet. Sie ist nicht nur termingerecht fertig geworden, sondern hat darüber hinaus auch schon Anforderungen aus dem damals geplanten TSVG in Teilen vorab berücksichtigt. Die durch das TSVG noch anstehenden Spezifikationen, die bis Ende April 2019 fertig sein sollten, wurden auch termingerecht umgesetzt.
Das Gesundheitsministerium hat nun die Mehrheit in der Gesellschafterversammlung der gematik. Was wird sich ändern?
Wir sehen eine Vielzahl von noch offenen Fragen in diesem Zusammenhang. Unklar ist etwa, wie die Mitarbeit des BMG in den Gremien der gematik konkret aussehen soll und welche Rolle die restlichen Gesellschafter mit ihren 49% noch spielen können. Und absolut skeptisch sind wir, ob die Übernahme der gematik durch das BMG dazu führt, dass die Industrie schneller als bisher die notwendigen Komponenten entwickelt und liefert. Denn in den vergangenen Jahren hat nicht die angebliche Blockade der Gesellschafter zu Zeitverzügen geführt, sondern die Lieferprobleme der Industrie.
Wie wichtig bewerten Sie den Faktor Interoperabilität?
Der ist enorm wichtig. Wenn wir bei der Telematikinfrastruktur und insbesondere bei der ePA keine Interoperabilität erreichen, werden wir auch keine Akzeptanz bei den Anwendern erhalten. Das gilt für die Leistungserbringer genauso, wie für die Versicherten.
Was ist an den Spezifikationen zu begrüßen?
Dass sie termingerecht fertig wurden und die notwendigen Festlegungen für eine Version 1.0 der ePA beinhalten. Damit wird die Basis für eine gute und zukunftsorientierte ePA und die heute schon bekannten weiteren Entwicklungsstufen gelegt.
Und was sehen Sie kritisch?
Natürlich werden einige bemängeln, dass das, was jetzt in den Spezifikationen festgelegt wurde, für eine vollumfängliche ePA nicht ausreichend ist. Das ist sicherlich auch so. Aber die ePA ist nun einmal die Königsdisziplin der Telematik-Anwendungen – da sind sich alle Branchenkenner einig. Und insofern sollte auch allen klar sein, dass man eine solche Anwendung in mehreren Schritten ins Feld bringen muss, um am Ende eine vernünftige und von allen akzeptierbare Lösung zu haben. Von daher sehen wir es als kritisch an, dass die Spezifikationen von vielen schon kaputtgeredet werden, bevor man sich überhaupt mit dem Thema detailliert beschäftigt hat.
Ist mehr geklärt oder sind viele Dinge ungeklärt geblieben?
Die Grundvoraussetzungen für die 1. Stufe und 2. Stufe sind festgelegt. Und hier ist auch nur so viel detailliert spezifiziert, wie für die Umsetzung durch die Industrie unbedingt notwendig ist. Die Industrie hat bisher ja immer negativ zu den Spezifikationen der gematik angemerkt, dass sie zu detailliert sind und ihr damit keine Freiräume für sinnvolle und innovative Umsetzungen gelassen werden. Diese Kritik der Industrie hat die gematik aufgenommen und nun so viel spezifiziert, dass eine spätere Zulassung möglich ist, die Kreativität der Industrie aber nicht unnötig eingeschränkt wird.
Wo sehen Sie noch die größten Probleme bei der Umsetzung?
Wir sehen keine Probleme bei der Umsetzung, weil die gematik für alle Teile der Spezifikationen, die man als problematisch ansehen könnte, im Vorfeld bereits vorhandene Produkte beziehungsweise Prototypen vorgestellt und mit der Industrie besprochen hat. Somit sollte es für die Industrie möglich sein, die Spezifikationen auch umzusetzen. Dazu, welche Zeiträume sie dafür benötigt, können wir allerdings keine Aussage treffen.
Ist 2021 realistisch?
Aus Sicht der Kassen sind die Spezifikationen für die Version 1.0 vorhanden und für die Version 1.1 liegen sie seit Mai vor. Damit haben die Kassen durch die gematik ihre gesetzlichen Aufgaben erfüllt und der Umsetzungszeitplan liegt komplett aufseiten der Industrie. Zu den Zeitplänen der Anbieter können wir, wie schon erwähnt, naturgemäß nichts sagen. Wenn man aber Ausschreibungsfristen, basierend auf den Spezifikationen der Version 1.1 annimmt und dann die Umsetzungszeiten der Industrie aus den bisherigen Projekten berücksichtigt, dann ist der vorgegebene Zeitplan des Ministers mehr als kritisch anzusehen.
Die gematik ist auch die Stelle, die in Zukunft die ePAs der verschiedenen Anbieter zulassen wird. Ist sie für die Aufgabe gut gerüstet?
Wenn die einzelnen Komponenten der ePAs zur Zulassung kommen, wird die gematik nach heutiger Planung auch für die jeweiligen Zulassungen gut aufgestellt sein. Um dies sicherzustellen werden heute schon in Arbeitsgruppen mit den Kassen die Zulassungsthemen abgestimmt.
Die Grünen fordern, dass jeder Versicherte sich seine ePA selbst wählen kann – es muss also nicht die ePA seiner Krankenversicherung sein. Ist das realistisch?
Wenn die Krankenkassen per Gesetz dazu angehalten sind, dass sie den Versicherten eine Akte anbieten müssen und die Akten untereinander interoperabel sind, dann werden ja alle Krankenkassen einen Anbieter für ihre Akte haben. Von daher macht es eigentlich keinen Sinn, noch weitere, darüberhinausgehende Akten zu entwickeln. Dies würde ja nur bedeuten, dass nicht notwendige Entwicklungskosten finanziert werden müssten. Von daher sehen wir weitere Akten außerhalb der Krankenkassen als nicht realistisch an. Zusätzlich würde in diesem Szenario auch noch ein nicht unerheblicher Verwaltungsaufwand entstehen, wenn Kassen Fremdanbietern dann für einzelne Versicherte Akten finanzieren müssen.
Was glauben Sie: Ist das ein interessanter Markt? Und wird es zukünftig ein großes Angebot an ePAs verschiedener Hersteller geben?
Sicherlich ist der Aktenmarkt ein durchaus interessanter Markt. Unserer Einschätzung nach wird es aber vermutlich gar nicht so viele Anbieter geben. Denn diese haben durch Entwicklung, Zertifizierung, Zulassung und Betriebsanforderungen nicht unerhebliche finanzielle und zeitliche Aufwände zu tragen. Diese Fixkosten lohnen sich nicht, wenn es sehr viele Angebote gibt, denen dann später keine entsprechenden Mengen an Anwendern gegenüberstehen.
Österreich und die Schweiz haben bereits elektronische Patientenakten. Was können wir von ihnen lernen?
Die gematik hat sich im Rahmen ihrer Arbeit auch über die Lösungen in anderen Ländern informiert und diese betrachtet. Soweit möglich, wurden auch interessante und funktionierende Ansätze berücksichtigt. Große Teile der ausländischen Lösungen sind aber in Deutschland aufgrund der aktuellen Gesetzgebung und der vorgegebenen Telematikinfrastruktur nicht verwendbar. Hierzu wären grundsätzliche gesetzliche Anpassungen und nachfolgend Änderungen an der Architektur der ePA notwendig.
Es gibt niedergelassene Ärzte, die die ePA ablehnen. Für Ärzte ist die Teilnahme jedoch verpflichtend, ansonsten droht das Ministerium sogar mit Budgetkürzungen. Was sagen Sie dazu?
Warum einige Ärzte die ePA ablehnen, ist für uns nicht nachvollziehbar. In den Gremien der Selbstverwaltung und der gematik sind sich alle Teilnehmer einig, dass eine ePA die Versorgung nur verbessern kann, wenn auch alle bereit sind die ePA mit den notwendigen Daten zu füllen. Im Übrigen handelt es sich hier um Daten, die auch heute schon jedem Versicherten auf Anforderung vom Leistungserbringer zur Verfügung gestellt werden müssen.
Die eGK soll der Schlüssel zur ePA sein. Diese soll die Telematikinfrastruktur (TI) nutzen, eine zentrale Rolle spielen die Konnektoren in der Praxis. Kritiker sagen, das Sicherheitslevel sei nicht hoch genug. Außerdem kritisieren sie, dass die Konnektoren von Privatunternehmen kommen. Eine berechtigte Kritik?
Nein, eine absolut unberechtigte Kritik. Die Konnektoren haben ein extrem hohes Sicherheitsniveau. Das ist durch das BSI und Prüfstellen zertifiziert. Von daher ist es auch überhaupt kein Problem, dass Privatunternehmen die Konnektoren herstellen. Im Übrigen: Wer sollte diese Komponenten sonst bauen, wenn nicht die Industrie? Zudem haben die Konnektoren ein so hohes Sicherheitsniveau, dass keine vorhandenen Lösungen aus dem In- und Ausland verwendet werden konnten.
Am 30. Juni mussten alle Praxen an die TI angeschlossen sein. Wie viele sind es aktuell wirklich?
Es sind mittlerweile vier Konnektoren zugelassen und schon seit geraumer Zeit alle Finanzierungsfragen geklärt. Damit waren alle Voraussetzungen für eine zügige Ausstattung gegeben. Nach unserem Wissen sind ca. 30 % noch nicht an die TI angeschlossen. Wie schnell diese Leistungserbringer tatsächlich bestellen und die Industrie diese beliefert, können wir nicht sagen.
Was wird die ePA verändern beziehungsweise verbessern?
Die ePA wird die Versorgung verbessern, wenn sie sinnvoll genutzt und die relevanten Daten in die Akte eingestellt werden. Zum einen, weil die Leistungserbringer auf gesicherte und hoffentlich vollständige Informationen schneller zugreifen können und zum anderen weil zum Beispiel Doppeluntersuchungen vermieden werden können. Eine Nutzung der ePA nur für Fitnessdaten und für Dokumente die der Versicherte selbst einstellt wird allerdings nicht zwingend eine Verbesserung der Versorgung mit sich bringen.
Die Europäische Kommission hat am 6. Februar auch Empfehlungen für ein einheitliches Austauschformat für ePAs vorgelegt. Was ist davon zu halten?
Dass man ein einheitliches Austauschformat auf EU-Ebene festlegt, ist durchaus sinnvoll. Das Austauschformat stellt aber nicht den komplett angedachten Stand einer ePA in der heutigen Form dar. Die gematik ist hier auch in den entsprechenden Gremien der EU vertreten. Neben dem Austauschformat sind aber vielmehr der Transport und die semantischen Inhalte problematisch. Beispiel: Es hilft nichts, wenn wir in Deutschland den Zugriff auf die Akte nur mit Konnektor und eGK umsetzen und im Ausland einen simplen Zugriff über einen Internetbrowser zulassen. Auch in Richtung Technik ist also eine einheitliche Regelung notwendig.
Rainer Höfer leitet seit 2009 beim GKV-Spitzenverband die Abteilung Telematik und IT-Management. Der Diplom-Informatiker ist seit 1985 im Gesundheitswesen im Bereich der Softwareentwicklung in verschiedenen leitenden Funktionen als Vorstand und Geschäftsführer tätig. Der Schwerpunkt seiner Arbeit lag in der Konzeption und Entwicklung von Software für Krankenkassen und in der Entwicklung zentraler Komponenten für Arztsoftwaresysteme.